I. (Erstens)
Beginnen wir beim Ort. Landnahmen aller Art, Strandburgen, Luftaufnahmen und Luftschlösser, Wasserzeichen oder Erinnerungen an diese machen aus einer Stelle einen Ort und hier sind es die Windspiele von Tonia Kudrass, die uns an diesen Ort Ecke Felix-Jud-Ring, Marie-Henning-Weg geführt hat. (Erinnert wird mit dem Straßennamen, das kann sich die Historikerin nicht verkneifen, an den Buchhändler und NS Gegner Jud und die Kommunistin Henning, die von 1931 bis 1933 in der Bürgerschaft saß.)
Ferner sind wir in Hamburgs Vier- und Marschlande, dem breiten, eiszeitlich geschaffenem Urstromtal und Stromspaltungsgebiet der Elbe und dem jüngsten Hamburger Stadtteil Neuallermöhe-West. (So heißt ja auch die Autobahnabfahrt der Marschenautobahn, die in Geesthacht endet.)
Und dazu ist von heimatkundlicher Seite einiges zu sagen. Falls Ihr heimatkundlicher Unterricht nicht hier stattfand oder verblasst ist: Die Vierlande sind Curslack, Altengamme, Neuengamme und Kirchwerder. Die Marschlande Ochsenwerder, Reitbrook, Allermöhe, Billwerder, Moorfleet, Tatenberg und das Spadenland.
Wir blicken auf fruchtbare, eingedeichte Ebenen, Grabendurchzogen, auf Weideland, Blumenund Gemüseplantagen, Kulturland seit gut 500 Jahren, eine Kulturlandschaft, in der bis ins 19. Jahrhundert 400 Mühlen ihre Flügel drehten. Die letzte Entwässerungsmühle können wir bewundern im Rieck-Haus, dem Freilichtmuseum (eine Außenstelle des Altonaer Museums) am Curslacker Deich /BAB-Abfahrt Bergedorf, zwei Abfahrten weiter östlich). Allermöhe gehört neben Billwerder, Ochsenwerder und Moorwerder (Werder, das sind die Inseln im Strom) seit 1395 zu Hamburg, da wurde es zwecks Sicherung der Elbschiffahrt und des Handels von Hamburg erworben. Der Grund , auf dem wir uns befinden, wurde unter Oberbaurat Fritz Schumacher 1908 bis 1911 gekauft – denn schon damals plante man dies Areal als Baugrund, d.h. zunächst als Baureserve.
Lassen wir unseren Blick über das weite, noch unbebaute Land schweifen und hören dazu den Stadtteilnamen, setzen wir eine Windmühle ins Wappen, alle Mühlen oder die Mühle der Familie Aller und wie schön das wäre. Die Heimatund Ortsnamenkunde belehrt uns hier leider eines Anderen. Wir schlagen hier den ersten Haken. Das Marschendorf Allermöhe hieß vormals Allermunde, Allermüge, davor Anremuthe, was soviel bedeutet wie anderer Mund, das heißt: andere Mündung. Der Mund welchen Wassers? Hier nun besteht Unklarheit. Gemeint ist wohl die Dove Elbe, auch Gamme (alte) Elbe genannt und in sie mündet einst ein Arm der Bille, so zumindest zu Zeiten der Besiedelung Billwerders. Die erste Urkundliche Erwähnung Anremuthes stammt aus dem Jahr 1162 und bald darauf geht die Siedlung in einer Sturmflut unter. 1992 wird begonnen mit dem Bau von Allermöhe II (das ist Neuallermöhe-West), einer „modernen Gartenstadt“, max. viergeschossig, für etwa 14.000 Einwohner. Soviel also zum Ort – über den Wind, Wasser und eitles Menschenwerk hinweggegangen sind.
II. (Zweitens)
Zweitens müssen wir uns um die Tiere kümmern. Um die echten Tiere, das heißt, die Vorbilder der rasenden Hasen und der hetzenden Hunde. Wir müssen zunächst fragen, welches Langohr wir vor uns haben: Lepus Capensis, vulgo Feldhase, oder Oryctolagus Cuniculus, vulgo Wildkaninchen. Eine einfache Unterscheidung ist nach Körperproportionen, beim Hasen sind die Ohren länger, sie reichen nach vorn gelegt bis über die Nase. Beim Hasen, der erheblich größer ist als das Karnickel, sind die Hinterläufe erheblich länger als die Vorderläufe, beim Karnickel, die Urform übrigens des Stallhasen, ist die Differenz geringer. Drei weitere Unterscheidungsmerkmale: das Kaninchen kommt nackt und blind zur Welt, der Hase voll behaart und sehend. Beide trommeln bei Gefahr mit den Pfoten auf den Boden, der Hase mit den Vorderen, das Kaninchen mit den Hinteren. Drittens wohnen sie verschieden, Hasen in flachen Mulden, den Sassen, Karnickel in Erdbauten.
Der ausdauerndere Läufer ist übrigens der Hase. Sie sollten heute entscheiden, um welche Läufer es sich hier handelt! Um Entscheidungen geht es hier ja ständig. Wir befinden uns auf einem Sportplatz, einer Wettkampfstätte – und um Rennen und Abgeschlagen-Werden, Schweiß und Niederlage, Scham, Punkt und Sieg geht es hier. Die Läufer auf der Anhöhe, dem Hochsitz, wir hier unten, beide Tiere zusammen, Hasen und Hunde kommen in der Jagd vor und die Jagd ist historisch gesehen eine Urform des SPORTS. So schlägt die Geschichte einen Haken, ebenso wie die gehetzten Hasen. Hund und Hase, das ist eine einfache Geschichte, schwieriger und gleich mythologisch oder literarisch wird es bei Hase und Igel oder Hase und Schildkröte. Beim Wettkampf Mensch Tier geht es um mehr als Sieg oder Ehre und hier ist der Hase inzwischen auf dem letzten Platz, was Rote Liste bedeutet. Der Hase bevorzugt offene, doch nicht ausgeräumte Landschaften und trotz sprichwörtlicher Fruchtbarkeit finden wir ihn kaum noch. Das anpassungsfähigere und weniger scheue Kaninchen hat ihm den Rang abgelaufen.
Erstaunliches ist zum Hund, genauer, zum Windhund zu vermelden. Der Windhund, ältere Bezeichnung Windspiel (heute nur noch gebräuchlich für das gut hasengroße Italienische Windspiel), ist die älteste Hunderasse überhaupt. Die ältesten Windhundknochen stammen von 5800 v.u.Z. im hethitischen Catal Hüyuk. Die Ur-Windhunde glichen wohl den heutigen Salukis – persischen Windhunden, und dienten als Jagdhunde für die Hirsch- und Gazellenjagd. Doch von Anfang an waren sie auch elegante Gesellschaftstiere, Statussymbole der Upper Class. Eines meiner Lieblingssprichwörter „Man kann einen Hund nicht zum Jagen tragen“, galt hier nicht: im alten Persien wurde sie auf Pferden oder Kamelen zum Schauplatz getragen. Die Ägypter nahmen die langbeinigen schlanken, kurzhaarigen und sicher kaum haarenden und stinkenden Geschöpfe via Mumie mit in Jenseits und Nachwelt.
Orts- und Zeitenwechsel: Der englische Greyhound wurde speziell für die Hasenjagd gezüchtet, und im 19. Jahrhundert von der Idle Class auf Tartanund Sandbahn eingesetzt. Ein commoder Sport, der noch dazu den Vorteil der Wettmöglichkeit bietet. Da laufen sie dann mit Nummern und hinter einer rasenden, parfümierten Hasen-Attrappe her und sind bis zu 70 Stundenkilometer für die Straßen hier zu schnell. (Die Menschen auf den Laufbahnen müssen sich Geruch und Beute imaginieren, um voran zu kommen.)
Soviel zu Hund und Hase, diesem ewigen, ungleichen Paar..
III. (Drittens)
Drittens lesen wir die Spuren von Hase und Hund. Nicht direkt die Pfotenabdrücke in Schnee oder Sand, nein, weil es hier ja um erhöhte und von der Künstlerin Kudrass ausgedachte Hasen und Hunde handelt, lesen wir kurz ein paar Spuren in der Kunst auf. Zunächst zum Hasen (wobei einiges darauf hin deutet, dass das Kaninchen mitgemeint ist): der Hase präsentiert sich als toller Hecht, besser: als vielfach begabter Darsteller. Bereits in der altchristlichen Kunst stellt er die flüchtige Zeit und das kurze Menschenleben dar ( so etwa in der Grabkunst), der Hase, der eine Weintraube verzehrt, symbolisiert die Taufe. Doch auch nach ganz großem greift das Langohr: als Gottessymbol und als Hinweis auf die Dreifaltigkeit – so z.B. im Grabower Altar (Hamburger Kunsthalle) und im Fenster des Paderborner Doms. In roman. Bauplastik soll er an den Mond denken lassen. Und dann, je nach Kontext, buchstabiert er die Fruchtbarkeit, oder, läuft er bergan, die Auferstehung Christi. Andererseits abschrecken und vor Unkeuschheit warnen, immerhin eine der sieben Todsünden. Man sollte meinen, das Tier an menschlichen Bedeutungspacktaschen.
Nicht so gut beleumundet läuft der Hund an uns vorbei. Oft ist er nicht klar vom Wolf zu unterscheiden, und der ist ja ein Konkurrent des Jägers und daher bös. Schon in der Bibel kommt er in Begleitung von Unzüchtigen, Mördern, Götzendienern und Lügnern vor. Im Himmel ist kein Platz für den Hund, obwohl die Kirchväter seine guten Seiten herauskehren, und zwar, die, die er als Gehilfe des Schäfers zeigt, als treuer Hüter der Herden. In dieser Rolle tritt er persönlich an gegen den Wolf und damit gegen den Teufel! Der Hund auf der Grabplatte liegt für Treue und Wachsamkeit. Die Laster, die ihm aufgebürdet sind, heißen Neid und Zorn.
Soviel zu gebildeten Spuren von Hund und Hase, verzeihen Sie mir die einsichtige christliche Sicht, und es ist wohl der Hase, der hier die Nase vorn hat.
IV. (Viertens und letztens)
Viertens ein paar lose Worte über Tonia Kudrass, die Schöpferin der Windspiel-Wesen. Die metallisiert, also metallisch materialisiert wurden vom Schmiedemeister Stefan Lasch-Abendroth. Tonia Kudrass ist ganz in der Nähe als Freizeitgärtnerin tätig. Eine ernste Sache, was weniger in persönlichen Neigungen begründet ist, sondern in gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, mit denen sie sich bereits vor gut zehn Jahren im öffentlichen Raum künstlerisch auseinandergesetzt hat. Und zwar mit „Vexat“ (übersetzt etwa: Täuschung, Störung) und in einem Schaukasten am ZOB konnten wir jeden Paragraphen der Deutschen Kleingartenordnung studieren und einen Blick werfen konnten in das Innere eines Gartenzwerg-Rohlings aus hautfarbenem Plastik, von unten. Dort als Auskunft zu den Rahmenbedingungen ihres gärtnerischen Tuns, zu den hier an diesem Ort regierenden Künstlerischen wird Herr Aisslinger gleich etwas sagen, wenn er aus der Arbeit der Kunstjury berichtet, und ich bedauere einerseits, dass hier nicht Hundert Hasen Rasen, wie vor zwei Jahren im Künstlerhaus Sootbörn, denen Beine gemacht wurden durch eine Turbine; und andererseits bin ich froh, es hier nicht mit vergänglichem Material zu tun zu haben. Für das die Künstlerin eine gewisse Affinität hegt – so zum Beispiel in der Arbeit für „Ressource Kunst“ mit dem Titel „ An einem sicheren Ort bringen“, die aus 60 Salzurnen bestand (nicht wie Wahlurnen gestaltet, sondern wie die letzten Behältnisse). Ebenfalls aus schwindenden, sich unter dem Einfluss der Elemente – und dem von menschlichen Subjekten – auflösendem Material war das „Standbild“ für das Straßenkreuz von 1991: an der Ecke Waterloostraße erwartete Napoleon Bonaparte sein Schicksal. Tonia Kudrass hatte ihn aus Seife gegossen, ebenso wie die 50 Engel aus Kernseife unter dem Titel „Botschaften“ im Rahmen des Projektes „Placebo – ich werden gefallen“ für eine Kasseler Apotheke zur Documenta 9. Womit ich jetzt nur ein paar Arbeiten genannt habe.
Also diese Blechhasen, deren Silhouetten lasergeschnitten sind, stellen sich dem Wettkampf mit der Zeit. Zum Abschluss meiner freien Assoziationen noch zwei Überlegungen zu Ort und Kunst, mit denen Sie nach Belieben umspringen können: Ebenso wie viele der Neusiedler hier stammt auch Tonia Kudrass von östlich der Oder. Und zweitens ist sie, ich war mal eingeladen in ihr Privatmuseum, eine Sammlerin, in deren Wunderkammer sich auch Gebeine und ein Nagerschädel befindet, und bei Sammlerinnen und Jägerinnen weiß man, finde ich, nie so recht, ob sie mehr Hase oder mehr Hund sind. Aber jeder Haase hat ja hier seinen Hund, und umgekehrt und soviel dazu.
»Windspiele«
Skizzen und Vorlagen für die Stahlplatten
»Windspiele«
Abendlicher Blick von Südwesten
südlich des Sportplatzes Neuallermöhe
»Windspiele«
Vier fliehenden Hasen
am Rand des Sportplatzes Neuallermöhe
»Windspiele«
Der Südrand des Sportplatzes am Felix-Jud-Ring
»Windspiele«
Vier fliehenden Hasen
am Rand des Sportplatzes Neuallermöhe
»Windspiele«
Kurzkonzept und Ideenzeichnung
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Tonia Kudrass
geb. 1943 in Neustadt, Schlesien. Lebt und arbeitet in Hamburg
1971: Freie Kunst bei P. Dreher in Freiburg
1973: Freie Kunst HdK Berlin bei R. Girke
1974 - 78: HfBK Hamburg bei G. Graubner
1978: DAAD Stipendium (Spanien)
1983: Arbeitsstipendium der Stadt Hamburg
1984: Lichtwark-Preis Stipendium