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»schnittstellen«

Vom Schnitter
auf hohem Rosz
und vom
Party­girl Catrina
Bilder und Figuren des Todes in Alter und Neuer Welt. Ein Epilog zu Tonia Kudrass' Ausstellung und Katalog »schnittstellen« von Wiebke Johannsen

I. Der Tod ist kein Fuszgänger

„Es hilft Euch nichts, wie weit ihr floht,
mein sausend Rosz geht weiter.
Ich bin der schnelle schwarze Tod,
ich überhol das schnelle Boot
Und auch den schnellsten Reiter.“ 1

Der Tod besteigt ein Rosz, um in den Zeiten der groszen Pestilenzen den gewachsenen Anforde­rungen Herr zu werden. Unmöglich, ohne beritten zu sein, die Distanzen zu bewältigen: 1347 landet er in Konstantinopel, im Jahr darauf setzt er bei Calais über den Ärmelkanal, Ostern 1349 ist er in Frankfurt, im Mai 1350 in Hamburg und Bremen, ein Drittel der Menschen raffte er im 14. Jahrhundert an sich, geschätzt 25 Millionen Menschen. Auf den zweiten Blick ist das nicht das Tempo eines schnellen Reiters, nach Berechnungen von Medizin­historikern eher das eines lahmen, abgezehrten Kleppers, dessen durch­schnittliche Rast an einem Ort fünf Monate währt. Von Straszburg bis Köln etwa liesz sich der Schwarze Tod ein halbes Jahr Zeit. Die Touristen des Mittelalters, Wall­fahrer und Geiszler, transpor­tierten das Bakterium – wir wissen ja heute, dasz Yersinia Pestis, 1894 von Doktor Yersin beschrieben, von Ratten­flöhen übertragen wird.

Bis ins 18. Jahrhundert suchen die Menschen wäh­rend und nach Pest-Epidemien Beistand in Bildern und Abwehr­zaubern, in Astrologie, in Aus­schwei­fungen, Gelübden, Geiszelungen und Verschwörungs­theorien, die zu Pogromen führten. Bilder: Der Tod reitet und der Tod tanzt. Wer reitet, ist ein Herr, er gebietet. Wer tanzt, ist verführerisch, man erliegt ihm. Der Knochenmann fordert alle, den Papst ebenso wie die kleinste Magd, den Kaiser wie das Kind, Lebende und Tote begegnen einander. Sie tanzen auch mit­ein­ander: Zwei ekstatisch tanzenden Skeletten wird von einem dritten aufgespielt, halbverweste Gestalten drehen und grüszen – die fröhliche Szene mit den wehenden Haar­schöpfen auf blankem Schädel findet sich in Hartmann Schedels Weltchronik, Nürnberg 1493. Im 15. und 16. Jahrhundert triumphiert der Tod meist, so bei Bruegel (1562, Triumph des Todes) auf hohem, doch abgezehrtem Rosz, geritten von einem Skelett mit Sanduhr, Sense, Drehleier.

Unmöglich, dasz es nur ein einziger ist. Aber gibt es nicht auch nur einen Gott? Und wie bei ihm, dem Einzigen, der auch aufgefächerte Trinität ist, gesellen sich dem reitenden Tod noch drei weitere Reiter der Apokalypse hinzu, der Reiter des Hungers, des Krieges und der Pestilenz. Die Reiter brauchen keine Sense (die Sense ist übrigens hist. jünger als die Sichel, ist in Deutschland erst spätmittelalterlich greifbar), sie schwingen Bogen, Schwert, Forke, der Hunger eine Waage – so die von Dürer 1498 selbst publizierten Reiter der Apokalypse. Seinen Tod in „Ritter, Tod und Teufel“ von 1513 setzt Dürer auch auf einen alten Klepper, einen grinsenden, wurmzerfressenen Dämon.

Später nennt man die Stimmung am Ende von Mittelalter und früher Neuzeit „Zeitalter der Angst“ oder „apokalyptisch“, eigentlich meint Apokalypse „Offenbarung“, heute meist verkürzt im Sinne von dunkel und Unheil-verkündend gebraucht.

Der Marstall, durch Tonia Kudrass‘ zitierte mexikanische Papeles Picados in eine Toten-Lebenden-Begegnung verwandelt, bewahrt das kaum gebräuchliche Wort für Stute „Mähre“, erinnert an das mittelhochdeutsche Wort für Pferd „marah“. (Der Marschall ist übrigens ursprünglich der Pferdeknecht, der aufgestiegen ist zum fürstlichen Trosz-Aufseher.)

Da der Ahrensburger Marstall zum Schlosz des Kriegs­gewinnlers und superreichen Dre­i­ecks­han­dels­­treiben­den (Zucker, Rum, Baumwolle aus Amerika nach Europa, von da Flinten, Schnaps, ­Kattun nach Afrika, von da Sklaven nach Amerika) Heinrich Carl Schimmelmann (1724-1782) gehört, sind die Todes-­Assoziationen mannigfach – und anachro­nis­tisch. Denn es war der vergleichsweise verarmte Ur-Enkel Ernst Schimmelmann (1820-1885), der das Schlosz nach bürgerlicher Manier umbauen liesz und der den Stall errichtete. Zu seinen späteren Lebzeiten gehörte das einst zum dänischen Gesamtstaat gehörende Holstein bereits zu Preuszen. Sein Groszvater, Globa­lisierungs-Avantgardist, „idealtypischer Vertreter der letzten Phase des Frühkapitalismus vor Beginn des Industriezeitalters“ (so sein Biograph Degn), fuhr nach Hamburg sechs- oder achtspännig ein, die Tor­wachen hatten zu salutieren. Welcher SUV vermag soviel ­Potenz zu zeigen?

Ernst Schimmelmann der Ältere (1787–1833) war between the Devil and the Deep blue Sea, er war ­Sklavenhalter und Abolutionist in einer Person. Zu ­seinen Lebzeiten verbot Dänemark als erstes Land 1803 den Sklavenhandel. Erst zu Lebzeiten seines Sohnes Ernst (1820-1885), nennen wir ihn Ernst II, wurde die Sklaverei in den dänischen Kolonien aufgehoben, 1848, also kurz nach dem Bau des Marstalls.

Der Ur-Enkel also. War er dankbar oder unzufrieden über seine Lebensspanne in kleineren Verhältnissen? Eine Photographie zeigt ihn mit Walroszbart, Fliege und mit vor der Brust verschränkten Armen. War sein Horizont der eines holsteinischen Pferdezüchters, der nachgerade den idealen Familien-Namen trägt?

Dasz es der Stall des Ur-Enkels war, läszt ihn weniger contaminiert erscheinen, weniger vom Blutfaden der Geschichte gezeichnet, was freilich mythologisch und unpolitisch tönt. Wir erwarten weniger die Wiederkehr des Potentaten mit Perücke in Begleitung seines Kammer­mohren als die eines Landwirtes in Manchester-Hose, der nach seinen trächtigen Stuten sehen will


II. Tod und Weib

1769 – Schimmelmann (d. Ä.) ist dänischer Baron und dänischer Schatzmeister, kauft eine Gewehrfabrik, steht noch am Beginn einer glänzenden Karriere – erschien in Berlin die kleine Schrift Gotthold Ephraim Lessings namens „Wie die Alten den Tod gebildet“.

Es ist eher unwahrscheinlich, dasz der Kaufmann sie zur Kenntnis nahm. Hier sei daraus zitiert, da die Schrift historisch (und polemisch) argumentierend, für ein freundlicheres Bild des Todes stritt. Übrigens sind Lessing und Schimmelmann eine Generation, Schimmelmann ist fünf Jahre älter als Lessing und überlebt diesen um ein Jahr.

„Die Alten“ meint die verblichenen Griechen und Römer, Anlasz der Schrift ein Streit, eine Polemik des Gotthold Ephraim Lessing (1729 – 1781) mit dem, so Lessing, „Altertumskrämer“ Klotz. 2 In dem Aufsatz wischt Lessing eingangs die Behauptung Klotzens beiseite, die Alten hätten Skelette gestaltet und damit den Tod personifiziert.

„Diese antiken Kunstwerke stellen Skelette vor; aber stellen denn diese Skelette den Tod vor? Muß denn ein Skelett schlechterdings den Tod, das personificierte Abstraktum des Todes vorstellen? Warum sollte ein Skelett nicht auch bloß ein Skelett vorstellen können? Warum nicht auch etwas anders?“ (S. 10)

Die Geister der Toten, die Larvae sind es, die durch Skelette dargestellt seien. Die antike Darstellung oder besser Verkörperung des Todes sei dem des Schlafes verwandt, der Tod überhaupt sei sein Zwillingsbruder. Lessing spricht literarisch und künstlerisch sehr folgenreich von dem Zeichen der Fackel, der nach unten gesenkten Fackel. Gedanken und Bilder zur Befreiung aus selbstverschuldeter Unmündigkeit. Weder Verdammnis noch Heil versprechend. Dezent die Kritik am Christentum: „Gleichwohl ist es gewiß, daß diejenige Religion, welche dem Menschen zuerst entdeckte, daß auch der natürliche Tod die Frucht und der Sold der Sünde sei, die Schrecken des Todes unendlich vermehren mußte. Es hat Weltweise gegeben, welche das Leben für eine Strafe hielten; aber den Tod für eine Strafe zu halten, das konnte ohne Offenbarung schlechterdings in keines Menschen Gedanken kommen, der nur seine Vernunft brauchte. Von dieser Seite wäre es also vermutlich unsere Religion, welche das alte, heitere Bild des Todes aus den Grenzen der Kunst verdrungen hätte!“ (S. 64f)

Doch, damit endet die Untersuchung, sieht Lessing nicht, „was unsere Künstler abhalten sollte, das scheußliche Gerippe wiederum aufzugeben und sich wiederum in den Besitz jenes bessern Bildes zu setzen.“ (ebenda)

Kunstwissenschaftlich ist das Bild, das Lessing in Anlehnung an den ein Jahr zuvor ermordeten Winckelmann entwirft, überholt, vor allem, weil die Abbildungen – Gemmen, Grabmäler, Tempeldarstellungen – fast alle aus der Spätantike stammen und der Autor rückprojiziert. Jede Epoche oder jede Generation schafft sich eben aus eigenem Anlasse ihre eigenen Vergangen-heiten. Was bleibt, sind Sätze wie der: „Tot sein hat nichts Schreckliches; und insofern Sterben nichts als der Schritt zum Totsein ist, kann auch das Sterben nichts Schreckliches haben.“ (S.48)

Lessings Schrift „Wie die Alten den Tod gebildet“, markiert einen Abschied, besser noch: einen Trennungs­strich zur Todes­schauer­welt eines gefühlten Mittel­alters. Als die Nacht­seite der Aufklärung verbuchen wir die Scheintod-Debatte. Auf der Fortschritts-Seite notieren wir die Säkulari­sierung der Friedhöfe und ihre Verlegung an die Peripherie der Städte (der Hamburger Senat beschlieszt 1794 die Verlegung der Friedhöfe auszerhalb des Damm­tores, bis 1812 werden jedoch weiterhin Tote in den Hamburger Kirchen bestattet).

Die Angst vor dem Scheintod hat sich zeitgleich zu einer regelrechten Hysterie entwickelt. Mediziner gieszen Öl statt Wasser ins Feuer dieser Angst vor dem Lebendig-Begraben-Werden, und die ersten Leichenhäuser des ausgehenden 18. Jahrhunderts, der Arzt Christoph Wilhelm Hufe­land (1762 – 1836) gilt als ihr Erfinder, beinhalten komplizierte Klingelanlagen und Rettungswecker. Drei Tage sollte der Leichnahm nun ruhen, allerdings im Leichenhaus, nicht in der häuslichen Umgebung des Verstorbenen. (Drastischer die vorherigen Methoden des Sichergehens wie Abtrennen von Fingern oder der Stich ins Herz.).

Als die Conquistadores 1519 unter Führung des verarmten Adligen Hernán Cortés in Tenochtitlan (Mexiko) einfielen, um sich Erde und Schätze der Erde Mittel- und Südamerikas untertan zu machen, hielten sie die Glaubensvorstellungen und Rituale der Azteken für grausam. Auf den Ruinen der zerstörten Tempelanlagen errichteten sie schon bald ihre Hauptkirchen. Die Azteken, die Anlasz genug hatten, nicht nur die Vorstellungswelt der Weissen für grausam zu halten – sie nannten sie denn auch Teufel –, erwartete, wenn sie nicht einen „guten Tod“ als Opfer starben, das Totenland Mictlan. Der Begriff des Opfers war für die Azteken zentral. Mictlan ist ein anstrengendes Zwischenreich, vier Jahre Weg, ein siebenarmiger Flusz musz überquert, ein gelber Hund gesucht werden. Das Fleisch wird hier von den Knochen gerissen, denn das Material wird gebraucht zur Schöpfung neuen Lebens. Es bedarf der Grabbeigaben, um die Passage zu überstehen, so helfen etwa Papierkleider gegen die fliegenden Obsidianmesser..

Es gab weitere Totenreiche, die sich angenehmer darstellen, Tlalocan etwa war ein blühender Garten und versprach Fortsetzung des Lebens minus Sorgen und Gebrechen. Im Gegensatz zu christlichen Vorstellungen existiert keine Trennung der Lebenden von den Toten, die Toten besuchen die Lebenden zu ihren Festen. Und sie haben ein Anrecht auf Land und die Erträge des Landes. Bei einigen indianischen Völkern des Hochlandes fanden die Totenfeste, auch Blumenfeste genannt, Anfang November statt.

Die aztekischen Darstellungen von Gerippen und Schädeln hielten die christlichen Eroberer für Schreckensbilder. Verständlich. Das Hauptmiszverständnis liegt darin, dasz die europäischen Memento-Mori-Darstellungen, (Gedenke des Sterbens!) tatsächlich den Tod und nicht die Toten meinen. Der Tod als „Frucht und Sold der Sünde“ (Lessing) und die Er­lösung durch das Selbstopfer Christi symbolisierten zum Beispiel Kruzifixe, die auf Schädeln und gekreuzten Langknochen stehen, ja, aus ihnen zu wachsen scheinen. Die Missionare, die die indianischen Heiden erretten wollten, hatten diese im Gepäck, und es ist davon auszugehen, dasz die „Heiden“ die Skulpturen und Bilder ganz anders lasen als kirchlicherseits intendiert. Für die Invasoren existierte das Fegefeuer ganz ohne Zweifel und war Ablasz-Zahlung nicht nur für Lebende, sondern auch für Verstorbene eine Notwendigkeit. Viele ihrer Überzeugungen werden später „Volksglauben“ genannt werden, und die Katholische Kirche vermag mit diesem Glauben flexibler und integrativer umzugehen als die Protestantische Kirche.

In den folgenden Jahrhunderten entsteht in Mittelamerika ein exemplarischer Synkretismus, also die Vermischung verschiedener Religionen. Die Bevölkerung Mexikos besteht überwiegend aus Mestizen, d.h. Nachfahren von Eroberten und Eroberern und Europäern, die über Texas und Kalifornien einwanderten. Über den Hafen von „Vera Cruz“ in „Neu-Spanien“ raubten die Europäer die Güter des Landes, und die Tatsache der Mission, die Erlösung der Menschen, rechtfertigte ihr Tun. (Was nicht in Abrede stellen soll, dasz es Missionare gab, die an den Menschen und ihrer Kultur interessiert waren.) 1821 erklärte sich Mexiko unabhängig vom sog. Mutterland Spanien.

1857-1860 herrschte Bürgerkrieg, 1910 (bis 1920) war Revolution, sieben Jahre später gab sich der junge Staat eine Verfassung.

Dasz die Revolution das Bezugsdatum der postkolonialen Geschichte ist, läszt sich an Frida Kahlos selbstgewähltem Geburtsdatum ablesen; die Malerin datierte ihre Geburt 1907 auf das Geburtsjahr der Revolution, 1910, um. In Frida Kahlos Werk - sie ist die Nachfahrin einer spanischen Generalsfamilie, eines indianischstämmigen Photographen und väterlicherseits der jüdisch-deutschen Familie Kahlo aus Baden-Baden - spiegelt sich die mexikanische Suche nach kultureller Autonomie und die Suche nach den vorspanischen Wurzeln. (Der Mythos Frida Kahlo nährt sich aus Motiven weiblichen Leidens und dekorativ verstandener Selbstportraits.) Kahlo platziert Bilder von Schädeln und Gerippen in ihre surrealen Landschaften. Ebenso wie ihr Mann Diego Riviera (1886 - 1957) wandte sie sich, in Abgrenzung zum „Gringo-Land“ als neuem Kolonialherren, der Volkskultur zu, in der präkolumbische Bilder und Geschichten überdauert hatten.3 Im Zuge des Kampfes um Unabhängigkeit war dieses Interesse am Ende des 19. Jahrhunderts erwacht. José Guadalupe Posada (1851-1913), Mexikos gröszter Karikaturist, Autodidakt, hinterliesz über 15.000 Stiche, gedacht und gemacht für das über­wiegend lese­unkundige Volk, die Wäscherin, die Dienstbotin, den Arbeiter. Posadas Werk bricht mit dem kultu­rellen Kolonialismus, er ist Vorläufer der groszen Erneuerer und im Gegensatz zu ihnen (Kahlo ausgenommen) nicht akademisch geschult.

Der „Meister der Calavera“ (also des Totenkopfes) hatte eine bis hier und heute immer wieder belebte Figur geschaffen: die Oberschichts-Knochendame Catrina, angetan mit Spitzenkleid, Lorgnon und prächtigem Blumenhut.

Riviera hat in dem Wandgemälde „Traum eines Sonntag-Nachmittags im Alameda Park“ von 1947 Frida Kahlo an Catrinas Seite gestellt – und sich selbst zum kurzbehosten Knaben. Vielleicht wollte er sich so, vermittels des Körpers der Kahlo, die Ehefrau wünschte er sich immer in „mexikanischer“ Kleidung, zum realen (göttl.) Sohn des Landes machen.

Hier haben sich Künstler und Künstlerin im Lessingschen Sinne in den Besitz eines besseren Bildes gesetzt, doch dies Skelett „stellt etwas anderes vor“.


III. Die Ofrenda und das Volver

„Tot sein hat nichts Schreckliches“? Und auch das ­Sterben hat nichts Schreckliches? Wobei Lessing nicht den gewalt­samen Tod gemeint hatte. Vierzig­jährig ver­öffent­lichte er die „Untersuchung“ „Wie die Alten den Tod gebildet“; er starb als 52jähriger – und soll noch auf dem Totenbett Lotterie gespielt haben.

Schenken wir Lessing Glauben, müssen wir das Schreck­liche, zumindest in Zeiten, wo Kriege, Völkermord und Epidemien fern, anderswo suchen. Ob der Schrecken benötigt wird, mag wohl angehen, die Kirche braucht(e) ihn in jedem Falle, dasz „Tot sein“ aber sehr wohl Schrecken ist oder verursacht, hat Rituale, Mythen, Kunst ins Leben gerufen. Was ist schrecklicher als der Tod? Der Untod. Wer ist schrecklicher als der Tote? Der Untote. Die Grenze ist nicht das Schreckliche, es sind die Grenzgänger und die Grenzbedroher. Beschränken wir uns auf die Grenze Tod, dessen Grenze die Wissenschaften zu einem weiten Feld zwischen Agonie und Eintreten der Leichenstarre gemacht haben. Es geht um unsere Angst vor der Wiederkehr der Toten, es geht um die Rechte der Toten.4 In der Angst vor Wiedergängern widerspiegelt sich Angst und Scham der Lebenden. Vielleicht auch Furcht vor deren Rache. Wer tat den nun Toten kein Unrecht an? Schmälerte ihr Gut, unterliesz Hilfe und Trost?

In Jean-Paul Sartres „Das Spiel ist aus“ (Originalausgabe „Les jeux sont faits“ 1947) spazieren die für die Lebenden unsichtbaren Toten mit fatalistischem Groll zwischen ihren Feinden und Mördern und erhalten eine letzte Chance der Rückkehr. In Pedro Almodóvars Komödie „Volver“ (2006, deutsch: Zurückkehren) wird nurmehr mit der Angst vor Wiedergängern gespielt, die vermeintlich tote Lebende hielt sich aus gutem Grund verborgen und wird nur für eine aus dem Totenreich Zurückgekehrte gehalten. Das Grundmotiv: die Toten und die Lebenden leben in Gemeinschaft. Eine Kompilation der Bearbeitungen des „Rückkehrerthemas“ wäre erschöpfend und ohne natürliches Ende

Leichname, denen posthum Knochen gebrochen wurden, deren Gliedmaszen zertrümmert oder abgetrennt wurden, deren Herz gepfählt, die bei der Bestattung mit Steinen beschwert oder in Bauchlage bestattet wurden, sprechen VolkskundlerInnen und ArchäologInnen gängigerweise als „Wiedergänger“ (oder Nachzehrer) an. Was die Angst selbst zum Wiedergänger macht, alles übrige scheint mir hochspekulativ.

Halten wir uns daher an aktuelle Angst-Bewältigungen, in denen Aberglaube und jedweder Synkretismus fortlebt. Die gängigste Behauptung, nämlich die: Wir (heutigen) ver­drängen den Tod hat den Vorteil der Selbstüberhebung, ich – die oder der ich das erkenne - gehöre nicht dazu, und ich selbst halte die Angst vor Tod und Toten für verfehlt oder überbe­wertet. Die wenigsten dieser Kritiker, die gern europä­ische Vergangenheitsschnipsel oder auszer­euro­päische Zustände folklorisieren, legen sich nachts zum Schlafen in ein Erdmöbel (vulgo Sarg) als Akt des täglichen Memento Mori. Modisch als vermeintlich anti-moderne Haltung empfiehlt sich weniger das als US-amerikanisch und allein der Konsumförderung geltende Halloween, sondern eher der ebenfalls Allerseelen begangene mexi­kanische Dia de los Muertos.

(Zur Erinnerung: Allerseelen, das ist der 2. November, in kath. Gegenden der Tag der Fürbitte für die verstorbenen Gläubigen, um ihnen Fegefeuer-Leid zu ersparen.) Die mexikanische Variante des Allerseelen ist ein Freudenfest, man verkleidet sich, man beschenkt einander, das Fest steht dem Weihnachtsfest, gemessen an Umsatz und Aufwand inzwischen kaum nach. Gelbe Laternen weisen den Toten, die nur Gelb sehen können und die genau einen Tag Urlaub haben, den Weg zu den Lebenden. Die Toten werden besänftigt mit möglichst opulenter Ofrenda (einer Gabe), gelben Blumen und buntem Buffet, gern Hähnchen oder Pute in dicker Tunke.

Zum Schmuck gehören bunte Papierschnitte, die er­wähn­ten und von Tonia Kudrass variierten Papeles Picados mit der von Posada ersonnenen Catrina, der Schädel-Lady mit Sonnenhut und -schirm. Süsze Schädel-Kreationen, Gebäck, Zuckergusz, Schokolade werden in erlaubter kanni­ba­listischer Manier verspeist. Das syn­kre­tistische Fest, vorkoloniale und kolonia­listische Motive aufgreifend, wird seiner­seits zum Buffet für Touristen im Zeitalter der Globa­lisierung. Bitte bedienen Sie sich! Der Tod minus Schrecken und mit dem Mehrwert der folkloristischen Authentizität. Der Run auf das Buffet schlieszt ein Entkommen vor der Todes-Angst, besonders der Angst vor den Toten nicht ein. Aber warum auch.

Les jeux sont faits. Das Spiel ist aus: Darüber hinaus wissen wir wenig gewisz. Wir wissen, dasz die Haare und Nägel von Toten nicht wachsen, und dasz auch das vermeintliche Schmatzen der Toten in ihren Gräbern natur­wissen­schaftlich erklärbar ist (Fäulnisgase). Ein Zeichen des Todes, das Super-Logo Totenkopf, machte im 20. Jahrhundert gewaltige Karrierre. War es zunächst Warn­signal vor Lebens­gefahr, die vor allem durch technische Einrichtungen drohte, wählten es im National­sozialismus uniformierte Mörderbanden mit Eliten-Selbst­verständnis zu ihrem Signet. Heute sehen wir es bei Zuhälter­banden mit Motorrad-Image und bei einem Hamburger Fuszball­verein, der ein un­bürger­liches, linkes Image pflegt und auf die Tradition des Totenkopfes als Freibeuter-, als Piraten-Flagge zurückgreift. Bei näherem Hinsehen zerfällt diese Herleitung zu Staub, einen Beleg für eine Totenkopf-Flagge an Bord der Seeräuber-Schiffe in historischer Zeit existiert meines Erachtens nicht.

Les jeux sont faits zum vorletzten: Nicht abschlieszend klären läszt sich die Frage des Rückkehrrechtes der Toten. Im Ahrensburger Schlosz hatte ich nicht den Eindruck, dasz man Furcht vor einer solchen hat. Wie in vielen Burgen und Schlössern zu beobachten, identifizierte sich die freundliche Dame an der Kasse mit der einst dort lebenden adligen Familie. Ohne dasz ich die Frage nach dem Ursprung des präsentierten Reichtums gestellt hätte, beschied sie mir, dasz es eben damals so war, Sklaverei völlig normal war und dasz andere hier viel gröszere Untaten begangen hätten und auch heute noch tun. Die klassische Relativierungs­strategie von Unrecht. Mir ist unklar, wie ein Mensch zurechtkommt im eigenen Leben und gedanklich in den vergangenen Leben ohne Menschlichkeit und andere unzerstörbare Werte. Graf Schimmelmann senior, kehrte er zurück, so ganz kurz, würde das gern erklären, bestimmt.

Les jeux sont faits zum letzten: Nicht nur das Schlosz besuchte die Autorin mit antiquarischem Interesse, sondern auch den benachbarten Speicher mit Antiquitäten. Dort fand sie einen interessanten Flyer der Firma „Quanten­sprung“, deren Chefin offenbar davon ausgeht, dasz Menschen mit Interesse an gebrauchten Möbeln sich auch für frühere Leben interessieren. „Quantensprung“ bietet „Rückführungen in Frühere Leben“ an. „Wer war ich im Vorleben?“ Als Beweis für die Existenz genügt der Hinweis auf die Wiederholung von Lebenssituationen.

Hier haben wir es also mit dem umgekehrten Weg zu tun, der Lebende steigt hinab, nicht ins Reich der Toten, sondern in eigene, frühere Leben, erlebt „einen rein geistigen Zustand“, dazu werden übrigens „Obst oder sonstige kleine Stärkungen“ gereicht. Dies nun ist ein Weg der Autonomie und der Selbstermächtigung. Von Schrecken keine Rede. „Quantensprung“ mit Sitz in Trittau bietet eine besonders saubere Version des Todes-Angst-Managements. Es versteht sich von selbst: Gerippefrei und zertifiziert.

Anmerkungen •

1 Lied aus dem 14. Jahrhundert, zit. n. Sticker, Bd. 1, S. 113. Dort ohne Quellenangabe.

2 Klotz (1738-1771) verdankt seine posthume Bekanntheit letztlich nur Lessings Polemik.

3 Dazu aus dem Manifest des „Sindicato de Trabajadores Técnicos, Pintores y Escultores“ also der Künstler­gewerk­schaft, in der Rivera und Kahlo arbeiteten, verfaszt um 1933: „Nicht nur der Adel der Arbeit, auch die einzigartige Begabung für das Schöne ist vor allem dem indianischen Teil unseres Volkes zu verdanken. Die Kunst des mexikanischen Volkes ist die größte und heilste der Welt, und die Tradition unseres Volkes ist unser kostbarster Besitz. (...) Wir lehnen die Kunst der Staffelei ab ... und treten begeistert für eine monumentale Kunst ein, die sich an die Öffentlichkeit wendet. (...) Sie soll eine Kunst für alle sein, sie soll der Bewußtwerdung und dem Kampf dienen.“ Zit. n. Tibol, S. 147.

4 Eine brauchbare Untersuchung zum Wiedergänger-(Aber)­Glauben, die auch die archäologischen Zeugnisse auswertet, steht m.E. noch aus.

5 Auf Basis altnord. Sagas und antiker Literatur für das Mittelalter detailreich und fundiert: Claude Lecouteux, Geschichte der Gespenster und Wieder­gänger, Köln 1987.Eine praktische Definition von Wieder­gänger aus Harmenings „Wörter­buch des Aberg­laubens“: „Verstorbene, die aufgrund eines unnatürlichen Todes oder eines Frevels in ihrer Körperlichkeit wieder­kehren. Insofern sind sie keine Gespenster, sondern ‚lebende Leichname’ (vgl. Leiche) in unverwester Gestalt. Sie können auch in verwandelter Gestalt, kopflos oder feurig oder in Tiergestalt erscheinen, als Hund, Pferd o.a. Häufig treten sie auch als Vampire (vgl. Drakula) auf. Auch diese erscheinen vielfach in Tiergestalt: als Hund, Wolf, Katze, Kröte, Frosch, Luchs, Schwein u. a. Dort übrigens auch der Hinweis, dasz die UNESCO 2003 das mex. Totenfest als „Meisterwerk des mündlichen und immateriellen Erbes der Menschheit“ aufgenommen hat.

Tonia Kudrass

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Tonia Kudrass

geb. 1943 in Neustadt, Schlesien. Lebt und arbeitet in Hamburg


Studium

1971: Freie Kunst bei P. Dreher in Freiburg

1973: Freie Kunst HdK Berlin bei R. Girke

1974 - 78: HfBK Hamburg bei G. Graubner

Stipendien

1978: DAAD Stipendium (Spanien)

1983: Arbeitsstipendium der Stadt Hamburg

1984: Lichtwark-Preis Stipendium

Impressum
©2011 Tonia Kudrass

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Foto: Jens-Roland Hasche